Hamlet

Stop thinking about forever

Datum
5. Dezember 2022 - 29. Januar 2023

Eröffnung: 04. Dezember 2022, 16–20 Uhr

Partizipierende
Beschreibung

Gruppenausstellung

mit einer Performance von Domingo Collective

Gestern hatte ich geplant, den Text zur Ausstellung fertigzustellen. Leider musste ich an demselben Morgen so früh aufstehen, dass ich während des ganzen Tages Kopfschmerzen hatte und kaum ein Wort zu Papier brachte. Später am Abend sass ich am Arbeitstisch meiner Mutter und erwischte mich beim (ich würde fast behaupten) reflexartigen Ruf in die Abgründe der sozialen Medien. Über dem verschwommenen Spiegelbild meines erschöpften Selbst stand so etwas Ähnliches geschrieben, wie Trying to write this f*ing exhibition text but ending up writing about everything but the exhibition. Send help. I just want to go to sleep. Wie immer: Ich erwartete nichts. Zu meiner Überraschung erhielt ich zahlreiche Ratschläge – Ratschläge hinsichtlich Textinhalt, Schreibprozess oder meiner Schlafroutine – , wobei die gewinnende Empfehlung meinte: Stop thinking! Da hätte ich eigentlich auch selbst draufkommen können.

Der Cursor blinkt nervös. Ich fühle mich von der Forderung gelähmt, die der Ausstellungstitel an mich zu stellen meint. Stop thinking about forever. Wenn mich meine Therapeutin mit leicht zusammen gekniffenen Augen fixiert und darauf wartet, dass ich in meinen Erläuterungen fortfahre, schaue ich an ihr vorbei auf die gelben Blätter vor dem Fenster, das sich rechts hinter ihrem Kopf öffnet. Da muss doch was sein, denke ich mir. Doch alles ist, wie weggeblasen. Es bleiben nur ihr Blick und meine Hände, die zwischen meinen verschränkten Oberschenkeln Schutz suchen.

Die Leere des unbearbeiteten Dokuments lässt mich nicht aus den Augen.
Stop thinking about forever.

Heute Abend wird der Text geschrieben sein.

Früher, als Kind, hütete ich eine Schachtel. Darin versteckte ich Geheimnisse – Briefe an mich selbst: Ich notierte das, was mich belastete, Erwartungen und Wünsche, die ich an mich hegte, so dass ich später überprüfen konnte, ob sich alles zum Besseren gewendet hatte. Das Wissen um die Existenz dieser Schachtel verlieh mir das Gefühl, über mein eigenes Leben zu verfügen. Ich frage mich, ob – wenn wir in der Schule gebeten werden, zu beschreiben, was wir denn später einmal werden wollen – ein ähnliches Ziel verfolgt wird. Anscheinend bewegen sich die meistgenannten Traum- berufe von Mädchen (der Altersgruppe 6 – 10 Jahre) in Bereichen der Führsorge (Spitzenreiterin sei heute ebenso wie vor 5 Jahren die Tierärztin), wobei sich die Jungs angeblich eher an ‘Helden der Zeit’ orientierten, wie beispielsweise dem Polizisten oder dem Astronauten (Siehe Blogbeitrag: Studie zu Traumberufen und Berufswünschen der Kinder von heute). Ich erinnere mich daran, wie mich diese Aufgabe jeweils verwirrt und ratlos zurückliess. Das will nicht heissen, dass ich keine Idole hatte. Im Gegenteil: Meine Wände waren tapeziert mit Postern von Tokio Hotel u.ä. Die Wahl meiner Idole könnte wohl als frühes Indiz von Persönlichkeitsmerkmalen gelesen werden, die sich erst Jahre später richtig ausprägten – und ich bin mir sicher, dass es sogenannte Studien gibt, die eine solche Analyse vornehmen.

Ist dieses unaufhörliche Vor- und Zurückschauen in der Zeit Beleg für die Idee des ‘Erwachsenwerdens’ als Zustand und lineare Abfolge von Handlungen, die den Verlauf des Lebens nachhaltig und für immer bestimmten? Aber was wäre, wenn sich die Richtung der Zeit entgegen ihrer Linearität änderte, wenn ihre Chronologie in Frage gestellt würde? Stop thinking about forever. Timelessness versus time. If everything is moving-all-over-the-place-no-time, anything is every-thing. If this is so, how can I differentiate? How can there be stories? (Kathy Acker, Great Expectations, 1980, S. 53)

15:28 In knapp zwei Stunden wird das Finster der Nacht Einzug halten in Oberwinterthurs Wohnquartier. Ich hoffe, nach Panadol und Kaffee wieder in besserer Schreiblaune zu sein:

Als ich mich im Oktober dieses Jahres am Ende eines zweieinhalbstündigen Tattootermins im Spiegel betrachtete, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass sich der Boden unter meinen Füssen öffnete und mich verschluckte. Dies geschah natürlich nicht. Stattdessen fand ich mich so unmittelbar mit der Konsequenz meiner Handlung konfrontiert, dass ich meinen eigenen Anblick kaum ertrug. Ich empfand Ekel – vor mir selbst und dem Übermut, der mich dazu verführt hatte, eine Entscheidung zu treffen, deren Konsequenz ich für den Rest meines Lebens ausgesetzt sein würde.
Ich erinnere mich akribisch genau, denn die Abscheu ergriff jede Zelle meines Körpers, aus dem ich mich gerne schälen hätte wollen. Wie eine Schlange, die sich häutet. Oder noch besser: Wie eine Eidechse, die ihren Schwanz abwirft. Aber ich glaubte zu wissen, dass mich das Tattoo für den Rest der Zeit in ebendiesem Moment gefangen halten würde – eine Körpermodifikation, die meine Unterwerfung vor den Trends der Zeit auf die Spitze getrieben hat. Hast du denn nichts verstanden? Die 45 Minuten der U-Bahnfahrt zurück nach Manhattan fühlten sich an wie 145. 145 Minuten, während denen die frisch tattowierte Körperstelle zu einem unproportional grossen Geschwür heranwuchs, vor dem ich kapitu- lierte.

Die Moral der Geschichte? Naja, eigentlich gibt es keine, denn es dauerte nur ungefähr 12 Stunden, bis ich mich selbst wiedererkannte. Die Versöhnung stellte sich am darauffolgenden Morgen ein. Die Erinnerung an das Gefühl sitzt dennoch tief, sonst könnte ich dieses wohl kaum so detailreich beschreiben. Das Tattoo als Mittel zur An- oder Enteignung der Haut? Ich glaube, die Endgültigkeit der Entscheidung (ich ignoriere jegliche Lasertechnologie zur Tattooentfernung und auch die Tatsache, dass sich besagte Technologien in den kommenden Jahren wahrscheinlich rasant verbessern werden) hat mich vor Allem mit deren einzigen Bedingung konfrontiert: Das Leben mit einem Körper oder dessen Grenzen. ‘Für immer’ heisst hier wohl ‘bis eine Zersetzung meines Körpers einsetzt bzw. bis sich mein Körper in Asche auflöst. ’

Bevor der Körper meines Opas im Herbst vor zwei Jahren kremiert wurde, erlebten wir eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Obwohl er bereits wochenlanger ärztlicher Beobachtung ausgesetzt war, wurde seine Suizidalität nicht ernst genommen. Meine Mutter ist überzeugt davon, dass ihr Vater eines institutionellen Missstandes zum Opfer gefallen sei, und dass, wäre er 20 Jahre jünger gewesen, seine klinische Depression wenigstens ansatzweise behandelt worden wäre. Das glaube ich auch. Dennoch: Die Begründung mit Bezug auf die altersbedingte Diskriminierung erscheint mir eindimensional. Bedenken wir, dass Krankheit, die Endlichkeit des menschlichen Körpers und damit der Tod spätestens mit Foucault als strukturell stigmatisiert herausgestellt wurden. Es ist schwierig zu begreifen, welche Spuren
ein Mensch zurücklässt, wenn er stirbt. Die materiellen Hinterlassenschaften meines Opas waren nach 6 Monaten grösstenteils aufgelöst. Und die Zeit mag Ereignisse vor meinen Augen verschwimmen lassen, an die Urnenbeisetzung erinnere ich mich aber noch genau: Da gab es einen Moment, als ich ihn wiedererkannte – in den geröteten Augen von all den Leuten, die sich um dieses Erdloch herum versammelten, spiegelte sich die gemeinsame Erinnerung an meinen Opa.

Ich war mir bis zum Schluss unsicher, ob ich in diesem Text über das Folgende schreiben soll. Denn es ist Beweis für meinen Hang zum Schmalz und mit dieser Offenbarung fühle ich mich ziemlich nackt. Aber es gibt da eine Empfindung, die ich als ‘unendlich sein’ beschreiben würde. Bedenke ich, dass die Übersetzung dieses abstrakten Konzepts in eine subjektive Erfahrung des Körpers eine ziemliche breite Schlucht überwinden muss, bin ich selbst erstaunt, in welcher Genauigkeit sich dieses Gefühl für mich bestimmen lässt. Ursprung meiner Definition ist wohl die letzte Szene des Fil- mes Vielleicht lieber Morgen (The Perks of Being a Wallflower) von Stephen Chbosky (der liebste Film meines 15-jähri- gen Ichs), in der Logan Lerman, Emma Watson und Ezra Miller als Charlie, Sam und Patrick bei Nacht zu David Bowie‘s Hero durch einen Autotunnel fahren. Kurz bevor der ‘Tunnelsong’ einsetzt, liest Charlie‘s Stimme aus dem Off den letz- ten Brief an sich selbst: There are people who forget what it’s like to be sixteen when they turn seventeen. And know these will all be stories someday (...).But right now these moments are not stories. This is happening. I am here and I am looking at her and she is so beautiful. (...) And you stand up and see the lights on buildings and everything that makes you wonder, when you were listening to that song on that drive with the people you love most in this world. And in this moment, I swear, we are infinite. Wie für Charlie, ist es auch für mich dieses flüchtige ‘Sich-Verbunden-Fühlen’, wenn ich mich mit Menschen gemeinsam fallen lassen kann, das – in der Simultanität von extremer Gegenwärtigkeit und Loslösung – für einen Augenblick meine Erfahrung der Welt, die linearen Narrative und die Kohärenz und Regeln der Logik irgendwie zu transzendieren scheint.

Als ich vor ungefähr einer Woche begonnen habe, darüber nachzudenken, was ich zu «Stop thinking about forever» schreiben will, fühlte ich mich verloren. Irgendwann landete ich auf einem Blogbeitrag aus 2005 (siehe http://forum. minitokyo.net/t33247): User Winxfairykay (Teenage Samurai) stellt die Frage Which one is longer: Forever, Eternity or Infinity?

Joemighty16 (Hope is an optimist) I don’t feel like ‘forever’ is really forever, ‘eternity’... I just LOVE the word! :D

Endsoftheworld99 (free and unfettered) ‘Forever’ is simply a word that we use to describe something that will never end. Unfortunately, it has been overused now-a-days and has well sort of become corrupted. People make wedding vows ‘forever’, but five years later, pooof there they go, up in a cloud of divorce smoke or sumthing like that. ‘Eternal’, a word which is not used as often as the other two, I think is the longest. It is kind of a mysterious word, and besides sounding more ‘powerful’ and ‘everlasting’ than the other two, eternal is used to describe many things that are beyond what our mind can comprehend. Like for instance ‘eternal life’, you really can’t think of what living eternally would be like because we can only think about finite things in a finite time.

Shyguy570 They’re all the same... forever, eternity, and infinity are confined to the existence of time. What beats them all? Always.

Text von Antonia Rebekka Truninger

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